Reise

Into the Wild

Eine Schottlandreise im Winter ist Abenteuer und Vergnügen zugleich. Die Mobilfunkabdeckung: dürftig. Die Natur: atemberaubend. Über ein Land, das den seltenen Luxus der Stille bietet

Text: ANNE PETERSEN
Fotografie: STEPHANIE FÜSSENICH
4. November 2025
Into the Wild
Durch gezielte Wildreduktion kann sich Schottlands Wald erstmals seit Jahrhunderten wieder erholen – ein wichtiger Schritt für Klima und Artenvielfalt

Am Horizont steht der volle Mond. Über uns ziehen die schwarzen Umrisse der Bäume vorbei, wie ausgefranste Scherenschnitte gegen den Nachthimmel. Die Scheinwerfer des Range Rovers leuchten den Weg durch den dunklen Wald. Plötzlich tauchen direkt vor uns zwei Augen auf, wie Glühwürmchen. Vollbremsung. Was war das? Noch 45 Minuten bis zum Ziel, das ist die einzige Info, die Google Maps für uns hat, bevor der Bildschirm endgültig einfriert. Die Straßenkarten von Schottland, die wir für genau diese Situation gekauft hatten, liegen derweil sicher auf der Kommode, zurückgelassen in Hamburg. Natürlich.

Eine Reise durch Schottland im November ist Abenteuer, Wagnis und Vergnügen zugleich. Die Mobilfunkabdeckung: dürftig. Das Wetter: Nebel, Regen, Schnee – aber auch überraschend viel Sonne und klarer Himmel. Die Landschaft: atemberaubend. Die Menschen: herzlich. Und das Essen? Deutlich besser als sein Ruf.

Unser erstes Ziel ist das Alladale Wilderness Reserve, 9000 Hektar Wildnis in den schottischen Highlands, etwa eineinhalb Stunden nördlich von Inverness. In der Dunkelheit folgen wir aufs Geratewohl einer unbefestigten Straße – in der Hoffnung, dass sie uns dorthin bringt, wo wir hinwollen. Endlich: ein Gatter! Die Alladale Lodge, steht auf einer Anhöhe, jedes Fenster ist hell erleuchtet. Der gewundene Weg zum Haus endet auf dem Vorplatz. Wir haben es geschafft. Kaum steht der Wagen, öffnet sich die Tür. Stephane Portes, ein Franzose, der hier die Geschicke leitet, steht im warmen Licht und heißt uns willkommen. Das offene Feuer des Kamins verbreitet verschwenderische Wärme, es gibt eine Sauna, ein Billardzimmer und eine sehr große Sammlung an Büchern zum Thema Naturschutz.

Unsere erste Nacht in Schottland, dem Land, das auf 78 000 Quadratkilometer und mit nur 5,5 Millionen Einwohnern so viel mehr zu bieten hat als Whisky, Dudelsack oder Haggis, das Nationalgericht aus Schafsinnereien. Viele entdecken gerade diese andere Seite Schottlands: seine Ursprünglichkeit, Abgeschiedenheit – und wohltuende Unzugänglichkeit. Etwa der Schriftsteller Christian Kracht, er beendete seinen Roman „Air“ auf der Hebrideninsel Isle of Canna, die dem National Trust gehört, nur wenige Bewohner zählt und kaum Übernachtungsmöglichkeiten bietet (eine der schönsten ist übrigens das Tighard Guesthouse). Der britische Interior Designer Ben Pentreath ist gerade auf die Orkney-Inseln gezogen. Mit Partner Charlie McCormick, dem Posterboy unter den jungen britischen Gärtnern, richtet er das Westness House her: zwei Fährverbindungen vom Festland entfernt und für Fans und andere Zaungäste deutlich schwerer zu erreichen als der ehemalige Landsitz der beiden in Dorset.

Ein weiterer Grund, jetzt nach Schottland zu reisen, sind eine ganze Reihe spannender Hoteleröffnungen. Am meisten Aufsehen erregten die Schweizer Galeristen Hauser & Wirth vor einigen Jahren mit der Renovierung des The Fife Arms Hotels in Braemar, das mit seinem etwas schwülstigen Interior, einer exaltierten Mischung aus Tartanmustern, Folklore und Kunst, ein nationales Klischee erfand, für das es in der Realität nie eine Entsprechung gab. Das Gleiche gilt für Scandi-Scot, den Look aller Properties des dänischen Milliardärs Anders Holch Povlsen, dem größten Landbesitzer in Schottland. Er ist nicht nur ein großer Naturschützer, seine Organisation „Wildland“ betreibt auch die mit Abstand schönste Kollektion von Ferienhäusern und Hotels im Land – und ist so zum Impulsgeber für die gesamte schottische Hotellerie geworden.

Alle Häuser sind schlicht und elegant eingerichtet, in Beige- und Grautönen, möbliert mit dänischen Designklassikern und Antiquitäten. Ein Stil, der die Harmonie und die Farben der umgebenden Natur spiegelt und vielleicht darum so charakteristisch schottisch wirkt. Fast jedes der neueren Hotels in Schottland lässt sich einer dieser Stilrichtungen zuordnen. Das Boath House in Nairn oder die Cabins auf den Atholl Estates halten sich skandinavisch zurück, während das brandneue Ardbeg House auf der Hebriden-Insel Islay wie ein Ableger des The Fife Arms daherkommt.

Das Interior der Alladale Lodge, in deren Foyer wir nun stehen, stammt noch aus Zeiten, als Laura Ashley dominierte – eingerichtet, kurz nachdem der Umweltaktivist Paul Lister das ehemalige Jagdanwesen vor einem Vierteljahrhundert kaufte. Das wahre Highlight liegt hier draußen: die Natur. Am Morgen stolziert das Damwild mit seinen großen Geweihen über die Wiese vor dem Haus, so als wüssten die Tiere ganz genau, dass im oberen Stockwerk nun die neuen Gäste die Vorhänge beeindruckt zur Seite schieben. Nach Jahren in der Möbelbranche und dem plötzlichen Tod seines Vaters gründete Paul Lister den „European Nature Trust“ und kaufte Alladale mit einer klaren Mission: Renaturierung der Highlands. Keine Jagdtouren mehr, dafür Millionen neu gepflanzter Bäume, die Wiederherstellung von Torfmooren und ein Beitrag zum Klimaschutz. Denn das romantische Bild der baumlosen Highlands trügt: Die Region war einst bewaldet, bis Abholzung und Schafzucht sie kahl fraßen. Dazu kam eine Wilddichte, die junge Bäume nicht mehr wachsen ließ. Wer heute aufforstet, muss einzäunen – oder regulieren.

Solche Zusammenhänge zu erklären, ist die Aufgabe von Kate Heightman. Die blonde 55 Jahre alte Britin sitzt hinter dem Steuer eines Defenders, am Revers trägt sie eine Wolfbrosche, da sie sich in einer sehr strittigen Frage einig ist mit Paul Lister: Beide befürworten die Wiederansiedlung von Wölfen. „Die Angst vor Wölfen ist symptomatisch für die Entfremdung von Mensch und Natur. Wölfe gelten als böse und gefährlich, dabei glaube ich, sie wollen mit den Menschen genauso wenig zu tun haben wie die Menschen mit den Wölfen“, sagt sie. Wölfe wurden vor rund 250 Jahren in Schottland ausgerottet. Seitdem hat das Rotwild keine natürlichen Feinde mehr. Dass die Gleichung „weniger Rotwild = mehr Wald“ funktioniert, zeigt sich eindrucksvoll an unserem zweiten Ziel: dem Killiehuntly Farmhouse, Teil der „Wildland“-Gruppe von Anders Holch Povlsen. Dort erwartet uns Grant Shorten, 32, schlank, blond, als Ranger quasi den ganzen Tag in der Natur unterwegs.

Gemeinsam fahren wir durch Wälder und Täler, in denen junge Bäume gedeihen – ganz ohne Zäune. Möglich ist das, weil das Wild hier von 50 auf ein Stück pro Hektar reduziert wurde. In den Anfängen stieß Eigentümer Anders Holch Povlsen, der schon die Ferien seiner Kindheit mit seinen Eltern in der Glenfeshie Lodge verbrachte, auf die Skepsis der lokalen Bevölkerung. Heute trifft man auf dem Weg zwei gut gelaunte Dorfbewohner, die nur lobende Worte für ihn haben. Früher war das Gebiet in Privatbesitz und unzugänglich. Jetzt radeln die beiden durch üppige Natur. Povlsen verfolgt mit „Wildland“ ein Ziel, das sich über mehrere Generationen entwickeln wird. Der Anfang ist gelungen. Und das Tier mit den leuchtenden Augen? Ein nachtaktives Hermelin – typisch Schottland: mystisch, still, lebendig.

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