Reise

Zwischen Himmel und Meer

Es sind nicht nur die weltberühmten Austern, die eine Reise in das bretonische Hafenstädtchen Cancale wert sind, sondern auch die vielseitigen Talente der Familie Roellinger: Seit mehr als vier Jahrzehnten macht sie den Ort zu einem kulinarischen Pilgerort

Text: STEPHANIE FÜSSENICH
Fotografie: ILONA MARX
5. September 2025
Zwischen Himmel und Meer
Hoch über dem Meer thront das Château Richeux. Es wurde in den 1920er-Jahren von einer Geliebten des französischen Premierministers Léon Blum erbaut, heute ist es ein Hotel

Die D 201 führt von Saint-Malo an der Küste entlang. Zugegeben, es gäbe eine kürzere Strecke nach Cancale, aber diese Route ist einfach die schönere. Gedeckte Beige-, Grün-, Grau- und Blautöne fliegen vorbei. Heuwiesen, Dünen, Watt und Meer. Dazwischen trutzige Steinhäuser, umgeben von üppig blühenden Hortensien, die das feuchte bretonische Klima lieben. Wir sind auf dem Weg zum Château Richeux, einem familiengeführten Relais-&-Châteaux-Hotel, sieben Kilometer südöstlich von Cancale gelegen. Es ist im Besitz der Familie Roellinger, die das 5000 Seelen zählende Küstenstädtchen seit über vier Jahrzehnten gastronomisch prägt.

Angefangen hat alles 1982 mit dem Restaurant Les Maisons de Bricourt, das 26 Jahre lang von Olivier Roellinger und seiner Frau Jane geführt wurde und zuletzt mit drei Michelin-Sternen dekoriert war. Um die weit gereisten Gourmets, die bei ihnen speisten, selbst beherbergen zu können, eröffneten die beiden 1988 ihr erstes Hotel: Les Rimains, im ehemaligen Wohnhaus eines Komponisten. Drei Jahre später kauften sie das Château Richeux und bauten es ebenfalls zum Hotel um. Heute ist die nächste Generation ins Geschäft eingestiegen. Die Geschwister Mathilde und Hugo sowie dessen Frau Marine leben die Tradition weiter – auf eigene Art und unter leicht veränderten Vorzeichen.

Olivier Roellinger, 70 Jahre, in Blazer und Chinos, begrüßt die Eintreffenden herzlich und ahnt vermutlich, was gleich passieren wird. Denn kaum hat man die marmorgeflieste Lobby mit dem eleganten Treppenaufgang betreten, wird man – fast wie das Meer vom Mond – von den Erkerfenstern in den beiden Nachbarräumen angezogen, die den Blick über die Bucht des Mont-Saint-Michel eröffnen. Kilometerweit schweift das Auge über die normannische Küste, die sich hier östlich an die Bretagne anschließt. 

Als Olivier Roellinger und seine Frau das sieben Hektar große Anwesen erwarben, hatte es schon mehrere Besitzerwechsel hinter sich, war jedoch in einem guten Zustand. Das Paar richtete das Haus so detailverliebt ein, dass der Eindruck entsteht, es wäre schon immer ein Hotel gewesen: Die elf Zimmer mit Blick auf die Bucht und die zwei Apartments sind in genau jenen Farben gestaltet, die die Landschaft prägen.

An den runden Tischen des Restaurants finden 35 Gäste Platz und kommen mittags und abends in den Genuss der Tasting Menus von Roellinger junior. „Ich hatte eine Ausbildung zum Offizier der Handelsmarine in der Tasche und war als Langstreckensegler auf allen Weltmeeren unterwegs, als ich die Berufung spürte, das Erbe meiner Eltern zu bewahren“, erzählt Hugo Roellinger, der seine langen, dunkelblonden Haare zu einem Dutt zusammengefasst hat und gerade mit großen Schritten die Treppe hinaufgekommen ist. Die Küche liegt eine Etage tiefer. „Am 57. Geburtstag meines Vaters habe ich ihm erklärt, dass ich Koch werden möchte.“

Hugo Roellinger hat seine eigene Philosophie entwickelt und dafür wurde Le Coquillage 2019 mit einem zweiten Michelin-Stern belohnt – den ersten hatte sein Vater erkocht – und dieses Jahr sogar mit einem dritten, nachdem 2020 der Grüne Stern für Nachhaltigkeit hinzugekommen war. Olivier Roellinger kümmerte sich schon lange nur noch um die Produktion seiner Gewürzmischungen. Und auch dieses Erbe bleibt bewahrt. Seine Tochter Mathilde kehrte nach Jahren als Kunstmarktexpertin 2018 aus Paris in das Haus ihrer Kindheit zurück, in dem sich bis zur Schließung 2008 auch das erste Restaurant ihrer Eltern befand. Nun hat die 41-Jährige hier ihren Arbeitsplatz.

Die Zimmer der Malouinière – so nennt man die Anwesen, die die Handelsleute aus Saint-Malo im 18. Jahrhundert erbauen ließen – sind noch weitgehend im Originalzustand. Auf dem Marmorkamin im Salon stehen Schalen mit Zimtstangen, Pfefferkörnern und Kardamomkapseln, auf einem langen Holztisch im Nebenzimmer liegen Gewürze in Gebinden und großen Gläsern. „Wir haben hier Muskatnüsse und Muskatblüten aus Sri Lanka und Grenada, den japanischen Bergpfeffer Budo Sansho, verschiedene schwarze Pfeffer aus Indien, weißen Pfeffer von der Insel Phú Quôc und wilden Pfeffer aus Madagaskar“, zählt Mathilde Roellinger auf. „Chili aus Mexiko, Tonkabohnen aus Brasilien – und unsere hauseigene Pfeffermischung ,Poivres des Mondes‘. Und natürlich jede Menge Kräuter, die meisten stammen aus Frankreich.“

Auf dem Tisch wird geprüft, gewogen und probiert. Die einstige Sterneküche ist heute das Gewürzlabor, in dem die Mischungen zubereitet werden. „Als das Bricourt noch existierte, bekamen die Gäste zum Abschied als Präsent ein Gläschen mit Gewürzen. Das kam so gut an, dass meine Eltern 1998 beschlossen, eine Gewürzmanufaktur zu gründen“, erzählt Mathilde. Noch heute erfreut sich „Retour des Indes“, die erste Gewürzmischung ihres Vaters, großer Beliebtheit: „Die Mischung vereinigt 14 Gewürze, die im 18. Jahrhundert von den Schiffen der französischen Handelsgesellschaft für Ost- und Westindien nach Saint-Malo gebracht wurden, darunter Kurkuma, Koriander, Sternanis, Senf, Kumin und Szechuanpfeffer.“

„Möchtet ihr einen Blick in unseren Vanille-Keller werfen?“, fragt Mathilde Roellinger. Bien sûr! „Vanille liebt das gleiche Klima wie Wein, feucht und kühl“, erzählt Mathilde und öffnet die großen Gläser, die mit Vanilleschoten aus Französisch-Polynesien, Neukaledonien, Madagaskar, La Réunion, Französisch-Guyana und Mexiko gefüllt sind – der Duft tropischer Wälder steigt aus ihnen auf. „Unsere Gewürze riechen nach den Landschaften, in denen sie wachsen“, erklärt die Expertin. Und: „Je höher der Vanillingehalt, desto mehr Kristalle sind an den Schoten zu sehen.“

Gleich zwei familieneigene Pâtisserien im Ort, Grain de Vanille und Vent de Vanille, verarbeiten die Schoten zu feinstem Gebäck. Wer selbst ambitioniert kocht, kann sich in der kleinen Épices-Roellinger-Boutique gleich nebenan eindecken. Dort gibt es auch die Teekreationen von Hugo Roellinger. „Au long cours“ heißt eine Infusion – mit Tulsi-Basilikum, Kalifornischem Mohn, Zitronenmelisse, Meeresalgen und Rosenblüten –, was sowohl „auf großer Fahrt“ als auch „langfristig“ bedeutet und eine Hommage an Hugos Frau Marine ist, die er schon seit Schultagen kennt.

Auch Marine hatte andere Pläne für ihr Leben. Sie träumte davon, ihre eigene Anwaltskanzlei zu gründen. Stattdessen bringt sie seit 2019 ihr Wissen, ihren guten Geschmack und ihre Spürnase für Schönes, wie etwa Möbel und Objekte, ins Familienunternehmen ein. Denn immer wieder stehen Renovierungen  in dem jahrhundertealten Gebäude an. Auch als die Familie vor zwei Jahren das Bistrot de Cancale direkt am Strand des Hafenörtchens eröffnete, um neben dem Tasting Menu auch Speisen à la carte anbieten zu können, war Marine an der Inneneinrichtung beteiligt.

Und Olivier Roellinger? Seit die nächste Generation die Geschicke des Hauses lenkt, engagiert er sich bei Ethic Ocean für den Schutz des Meeres und gemeinsam mit dem Kollektiv „Les Pieds dans le Plat“, dafür, Kinder mit Bio-Kantinenessen zu versorgen. „Unser einziger Wunsch ist, unser Glück zwischen Himmel und Meer zu teilen“, sagt er zum Abschied. Einen Wunsch, den man nicht in Zweifel zieht: Für Glücksmomente sorgen die Roellingers und ihre 70 Angestellten in Cancale vom Morgengrauen bis zur Nachtruhe. Und ob Hugos und Marines Sohn Ulysse später die Welt umsegeln oder in seinem Geburtsort bleiben möchte? Das wird man sehen.

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