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So wird ein Schuh draus

Die Schwestern Anna und Magdalena sind in die Fußstapfen ihres Vaters getreten und bilden die fünfte Generation der Wiener Schuhmanufaktur Ludwig Reiter. Derweil steckt die sechste noch in den Kinderschuhen – ein Besuch in einem Zuhause voller Verwandter

Text: TINA BREMER
Fotografie: JULIUS HIRTZBERGER
4. November 2025
So wird ein Schuh draus
Gerne blättern Marketingchefin Anna, 37, und E-Commerce-Leiterin Magdalena, 35, durch das Musterbuch, in dem alle Modelle der Manufaktur Ludwig Reiter festgehalten sind

Kurz vorm Drücken des Klingelknopfs geistert auf einmal dieses Kinderlied durch den Kopf. „Zeigt her eure Füße“. Herrje, schnell noch einen Blick Richtung Boden werfen: Sind die Schuhe auch ordentlich geputzt? Die Frage hat heute eine besondere Brisanz. Erst recht, wenn es sich bei dem Paar an den Füßen nicht um eine gewisse Marke handelt. Ein Fauxpas, ein Fehltritt? Anna Reiter-Smith lacht und winkt ab. Mit Baby Scarlett auf dem Arm geleitet sie ihre Gäste die Steinstufen hinauf in die Halle. Vergangenes Jahr sind sie, Ehemann Jamie und die Söhne Ludwig und Austin in die Familienvilla in Wien eingezogen. Das buttergelbe Haus am Türkenschanzpark gehörte einst ihren Großeltern, heute leben drei Parteien in dem Gebäude aus dem Jahr 1890 – auch Annas Tante und ihr Onkel bewohnen je eine Etage. Puh, so viele Verwandte unter einem Dach, allein der Gedanke könnte dem einen oder anderen Schweißperlen auf die Stirn treiben. Im Hause Reiter eine Selbstverständlichkeit. Ist die Familie doch der Leim, der alles zusammenhält.

Marketingchefin Anna, 37, und E-Commerce-Leiterin Magdalena, 35, gehören zur fünften Generation des Wiener Traditionsunternehmens Ludwig Reiter, das ihr Vater Till führt. Seit 1885 stellt die Manufaktur rahmengenähte Schuhe per Hand her. Sie ist, abgesehen von einzelnen Schuhmachern, die letzte im deutschsprachigen Raum, die im großen Stil in Serie produziert. Wobei das Wort „groß“ in diesem Zusammenhang eine Frage der Perspektive ist. Gerade einmal 90 bis 100 Paar am Tag fertigen die 50 Mitarbeitenden in der Werkstatt am Rande Wiens, so viel, wie maschinell produzierte Schuhe anderswo pro Stunde ausgespuckt werden. 

2008 erwarb Ludwig Reiter das Gut Süßenbrunn samt Renaissance-Schloss, Nebengebäuden, Linden und Kastanienbäumen. In den ehemaligen Stallungen des Gutshofs entstehen Modelle wie „Budapester“, „Derby“ und „Ententeich“. Klassiker aus Rinds-, Kalbs- oder Pferdeleder, deren Design so zeitlos ist, dass sie jedem Modetrend spotten. Unter einer Gewölbedecke rattern historische Nähmaschinen, als sei nicht über ein Jahrhundert ins Land gezogen, seitdem Ludwig Reiter der Erste mit seiner Frau Anna einen kleinen Handwerksbetrieb im Herzen Wiens eröffnete. Bald belieferte das Unternehmen auch die kaiserliche und königliche Armee, stattete sie mit Offiziersschuhen und Reiterstiefeln aus. Sanft adaptiert, orientieren sich die aktuellen Modelle noch immer an den Entwürfen von anno dazumal. Wie etwa die „Husarenstiefel“, die Hollywood-Beau Brad Pitt im Blockbuster „Inglourious Basterds“ trug. Oder jene, die in „Ballad of a Small Player“ an Colin Farrell zu sehen sind.

 

Findet man die hauseigenen Schuhe auch in den Schränken der Schwestern? Oder gehen sie fremd? „Wir tragen tatsächlich nur Ludwig Reiter“, sagt Anna. Bis auf eine Ausnahme: „Ich habe noch einige Paare von Louis Vuitton, aus meiner Zeit, als ich dort gearbeitet habe.“ Acht Jahre lang war Anna für das Modehaus tätig. In London, von wo sie nicht nur eine Liebe für den eklektischen britischen Stil mitgebracht hat, sondern auch ihren Ehemann, Jamie McGregor-Smith. Ist es ihm schwergefallen, von London ins vergleichsweise beschauliche Wien überzusiedeln? „Gar nicht“, sagt er und schiebt einen Toffee-Pudding in den Ofen – in einer Stunde kommen die Gäste. „Es ist viel einfacher, von hier aus Europa zu entdecken.“

Gegen allfälliges Heimweh hilft sicher auch, dass die Wohnung der beiden im „Cottageviertel“ liegt. Wüsste man es nicht besser, wähnte man sich in England zwischen all den Altbauvillen mit Sprossenfenstern und Giebeln. Auch das Interior mutet britisch an: In der großen Halle tickt eine alte Standuhr von Charles Smith. Im ehemaligen Waffenschrank des Großvaters steht heute das Geschirr. Annas Schwester Magdalena, die mit ihrem Mann Clemens Jahn und den zwei Kindern ganz in der Nähe das andere Familienhaus bewohnt, hilft beim Tischdecken. Die Schwestern sind nicht nur beruflich ein eingespieltes Team: „Wir lieben es, Gäste einzuladen.“

Zu besonderen Anlässen ziert das Festtagsgeschirr die Tafel, achteckige Keramikteller, die ihre Mutter Barbara bemalt hat. Keiner gleicht dem anderen, jeder ist ein Unikat. „Sie hat uns beiden ein Service geschenkt“, erzählt Magdalena und stellt handgeblasene Gläser von Jochen Holz aus London dazu. Auch die Tischdecke hat ihre Mutter gefertigt, bestickt mit Ajour-Lochmuster. Handwerkliches Geschick scheint in der Familie zu liegen. Auf Vater Till trifft das Sprichwort „Schuster, bleib bei deinem Leisten“ jedenfalls nicht zu – er ist auch ein begabter Tischler, hat den Esstisch, das Stockbett der Jungs und selbst das Bett von Anna und Jamie geschreinert. Das Kopfteil ist, natürlich, mit Schuhleder bezogen. Genauso wie das Sofa im Wohnzimmer, ein Entwurf des verstorbenen Onkels, den er mit der Möbelmanufaktur Wittmann realisiert hat. „Es steht in all unseren Geschäften“, sagt Anna.

Inzwischen ist auch Tante Nona mit ihren Kindern eingetroffen. Magdalena zieht sich Topflappen – eine längst ausverkaufte Sonderanfertigung von Ludwig Reiter – über und holt den heißen Spinatstrudel aus dem Ofen. „Ein Freund von uns trägt sie im Winter als Handschuhe“, erzählt sie und lacht. Keine Frage: Dieses Familienunternehmen hält noch einige Überraschungen parat.

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